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Neuro-Urologie – Was ist das? Für wen? Und was bringt es?

Fachbericht von PD Dr. Dr. med. Ulrich Mehnert, leitender Arzt Neuro-Urologie, Universitätsklinik Balgrist, Zürich, August 2022

In der Urologie geht es ganz allgemein um die Abklärung und Versorgung von Erkrankungen oder Verletzungen der ableitenden Harnwege und der männlichen Geschlechtsorgane. Letzteres betrifft natürlich nur die Männer, weshalb Urolog*innen oft auch als Männerärzt*innen beschrieben werden, was allerdings zu kurz greift, denn Erkrankungen der ableitenden Harnwege betreffen alle Geschlechter. Die ableitenden Harnwege umfassen alle Strukturen, die daran beteiligt sind, den fast kontinuierlich vom Nierengewebe produzierten Urin nach aussen abzuleiten. Damit aber nicht ständig irgendwo aus dem Körper Urin herausträufelt, ist der Mensch mit einem Reservoir, nämlich der Harnblase, ausgestattet. In der Harnblase wird der Urin, der von den beiden Nieren über die beiden Harnleiter (= Verbindung von der Niere in die Harnblase) abfliesst, "zwischengelagert". Dies ermöglicht es uns über einen bestimmten Zeitraum (je nach Trinkmenge und Tageszeit durchschnittlich 3-4h) keinen Gedanken an die Urinausscheidung verschwenden zu müssen und uns anderen Dingen zuwenden zu können. Erst bei voller Harnblase meldet sich diese und signalisiert uns, eine Toilette aufzusuchen und den Blaseninhalt über die Harnröhre (= Verbindung von der Harnblase nach aussen) zu entleeren.

Während es in der allgemeinen Urologie vorwiegend um die konservative wie operative Behandlung gut- und bösartiger Gewebeveränderungen der Nieren und ableitenden Harnwege, Therapie von Harnsteinleiden oder die Versorgung von Erkrankungen und Funktionsstörungen der männlichen Geschlechtsorgane (inkl. gut- und bösartiger Prostataveränderung) geht, stellt die Neuro-Urologie einen speziellen Teilbereich der Urologie dar, in dem es hauptsächlich um die Diagnose und Therapie von komplexen Funktionsstörungen des unteren Harntraktes (dazu gehört die Harnblase, Harnröhre und Harnröhrenschliessmuskel, bei Männern auch Prostata) geht, die aus Erkrankungen oder Verletzungen des den Harntrakt versorgenden Nervensystems resultieren.

Um die für gesunde Menschen meist selbstverständlichen Funktionen der Urinspeicherung und Urinentleerung über den unteren Harntrakt effizient und korrekt durchzuführen, bedarf es einer ausgeklügelten Steuerung, die über Nervenverbindungen und Knotenpunkte im Bereich des unteren Harntraktes selbst, des Rückenmarks und letztlich des Gehirns als übergeordnetem Kontrollzentrum läuft. Störungen dieser nervlichen Steuerung, egal auf welcher Ebene, können daher leicht zu Funktionsstörungen des unteren Harntraktes und schliesslich Beschwerden führen. Solche Beschwerden können sein:

  • Harninkontinenz (= Urinverlust in Unterwäsche/Bekleidung)
  • Überfallsartiger, starker Harndrang, durch den man gezwungen wird, die laufende Tätigkeit sofort zu unterbrechen und eine Toilette aufzusuchen, da sonst ggf. Harninkontinenz droht
  • Häufiger Harndrang, wodurch das o.g. Zeitintervall währenddessen man sich um andere Dinge als die Urinausscheidung kümmern kann, spürbar verkürzt ist und man deshalb den Tag teilweise oder ganz nach der Harnblase planen muss.
  • Nächtlicher Harndrang, wodurch die Nachtruhe gestört werden kann, da man mehrmals aufstehen muss, um die Harnblase zu entleeren
  • Erschwerte oder unvollständige Harnblasenentleerung
  • Schmerzen
  • Wiederkehrende Harnwegsinfektionen (= Blasenentzündungen)

Die Personen, die klassischerweise neuro-urologisch behandelt und betreut werden sind Menschen mit einer Rückenmarkverletzung bzw. Querschnittlähmung, denn diese Personen sind oft schwer betroffen und noch bis in die 1970iger Jahre waren urologische Komplikationen, die aus den Funktionsstörungen des unteren Harntraktes resultierten, eine der Haupttodesursachen nach Rückenmarkverletzung. Das dem heutzutage nicht mehr so ist, ist den medizinischen Fortschritten in der Neuro-Urologie zu verdanken. Aber auch Aufklärung und Information haben dazu beigetragen, dass Beschwerden und Funktionsstörungen des unteren Harntraktes nicht mehr generell als unvermeidliche, irrelevante und hinzunehmende Begleitproblematik abgetan werden. Nicht immer ist glücklicherweise gleich das Leben in Gefahr oder es sind Organe wie die Nieren bedroht, aber wie sich aus den genannten Beschwerdebildern schon erahnen lässt, geht immer ein grosses Stück Lebensqualität verloren, wenn die Kontrolle über die Harnausscheidung nicht mehr vollständig gegeben ist. So ist es Ziel der neuro-urologischen Diagnostik und Therapie neben dem Erhalt der Reservoirfunktion der Harnblase und dem Schutz der Nieren, auch die Lebensqualität zu verbessern bzw. eine gute Lebensqualität zu erhalten. 

Da wie oben beschrieben, jegliche Störung der nervlichen Kontrolle des unteren Harntraktes funktionelle Probleme desselben hervorrufen kann, werden in der Neuro-Urologie letztlich Personen mit verschiedensten neurologischen Erkrankungen versorgt. Die grössten Patient*innengruppen stellen dabei neben den Personen mit Rückenmarkverletzung Menschen mit multipler Sklerose, Parkinson-Erkrankung, Spina bifida (= angeborene Fehlbildung meist des Lendenwirbelsäulenbereichs und dem darunterliegenden Nervengewebe), Polyneuropathie (= Erkrankung mehrerer Nerven, die ausserhalb von Gehirn und Rückenmark liegen), Schlaganfall und Nervenschäden nach Operationen und/oder Bestrahlungen im Beckenbereich dar.

Die häufigsten Anliegen/Fragen mit denen sich betroffene Menschen an uns wenden sind:

  • Reduktion der störenden Symptome / Verbesserung der Lebensqualität
  • Abklärung der zugrundeliegenden Ursache für die Symptome (Was ist los mit meinem Körper?) / Ausschluss einer bösartigen Ursache (Kann eine Krebserkrankung hinter den Symptomen stecken?)
  • Beratung zu Perspektive und Langzeitverlauf / Prävention von Komplikationen
  • Zweite Meinung bei Unsicherheit bzgl. bisherigem Behandlungskonzept
  • Beratung hinsichtlich Sexual- und Darmfunktion 

Auch Menschen mit Zerebralparese sind oft von einer Störung der unteren Harntraktfunktion betroffen, weshalb eine neuro-urologische Abklärung und Beratung wichtig sind. Durch die frühe Schädigung des sich entwickelnden Gehirns und der daraus resultierenden motorischen und kognitiven Beeinträchtigung unterschiedlichen Ausmasses, können auch die Steuerungsvorgänge der unteren Harntraktfunktion gestört werden. Man geht davon aus, dass über die Hälfte der Menschen mit Zerebralparese mindestens ein Symptom (s.o.) als Zeichen einer Störung der unteren Harntraktfunktion aufweisen [1]. Das führende Symptom ist dabei die Harninkontinenz, gefolgt von starkem und häufigem Harndrang. In der Funktionsdiagnostik mittels Blasendruckmessung (Urodynamik, Zystometrie) erklärt sich dies dadurch, dass sich bei Menschen mit Zerebralparese häufig (in ca. 60% der Fälle) eine Blasenmuskelüberaktivität zeigt (d.h. der Blasenmuskel zieht sich vorschnell und zu heftig zusammen, dadurch können Urininkontinenz, Schmerzen und/oder Nierenschädigung durch zu hohe Drücke in der Harnblase entstehen). Harnblasenentleerungsschwierigkeiten sind etwas weniger präsent (ca. 25%), allerdings zeigt sich urodynamisch in fast 40% der Fälle ein abnormaler Harnstrahl mit meist «stakkatoartigem» Muster [1]. Dies hängt mit Koordinationsstörungen

zwischen dem Harnblasenmuskel und dem Harnröhrenschliessmuskel oder einer fehlenden Entspannung des Beckenbodens während der Harnblasenentleerung zusammen. Ein weiterer häufiger (> 70%) zystometrischer Befund ist eine reduzierte Harnblasenkapazitzät wodurch insbesondere häufiger und starker Harndrang sowie Urininkontinenz begünstigt werden. Auch Personen mit Zerebralparese, die (noch) keine Symptome aufweisen, können in der Blasendruckmessung bereits relevante Auffälligkeiten aufweisen, die im weiteren Verlauf einerseits zu Symptomen und andererseits auch zu schleichenden, nicht unmittelbar spürbaren Schädigungen an unterem und oberen Harntrakt führen können [1].

Funktionsstörungen des unteren Harntraktes sind oft umso ausgeprägter, je stärker die motorische Beeinträchtigung im Rahmen der Zerebralparese ist (GMFCS, Gross Motor Function Classification System ≥ 3). Insbesondere Personen mit der Form einer spastischen Cerebralparese weisen häufiger Symptome einer Funktionsstörung des unteren Harntraktes auf als Menschen mit anderen Formen der Cerebralparese [1]. 

Im Übergang vom Kind/Jugendlichen zum Erwachsenen, können sich sowohl die Symptome, als auch die dahinterstehenden Funktionsstörungen des unteren Harntraktes ändern [2], einerseits aufgrund einer Verschlechterung von einer zuvor unerkannten/unbehandelten Funktionsstörung, andererseits durch sekundäre Veränderungen wie zusätzliche/begleitende Schäden an Wirbelsäule und Rückenmark (z.B. durch Skoliose = Verkrümmung der Wirbelsäule) oder Vergrösserung der Prostata (nur Männer). 

Hinsichtlich der Diagnostik ist es hilfreich, wenn man so früh wie möglich versteht, wie die funktionelle Situation im unteren Harntrakt bei der betroffenen Person aussieht, um abschätzen zu können, ob dadurch mittel- bis langfristig weitere Probleme zu erwarten sind oder nicht. Die frühzeitige Diagnostik ermöglicht auch ein breites Behandlungsspektrum, da geringe bzw. erst beginnende Funktionsstörungen durch wenig belastende konservative Massnahmen korrigiert werden können.

Hinsichtlich der Therapie spielt auch der bisherige Verlauf eine wesentliche Rolle. Sind viele Komplikationen (z.B. wiederkehrende Harnwegsinfektionen, Schmerzen, Blasensteinbildung, Blutungen) oder gar Hospitalisationen wegen Problemen mit dem Harntrakt aufgetreten, muss meist intensiver therapiert werden, als wenn der Verlauf eher komplikationslos ist. Da die Ausprägung und Wahrnehmung von Symptomen sehr unterschiedlich sein kann und viele Menschen mit Zerebralparese von Angehörigen oder Dritten betreut werden, bedarf es einer ausgewogenen Abstimmung zwischen allen Beteiligten. Daher steht nach Abschluss der initialen diagnostischen Abklärung das beratende Gespräch im Vordergrund, bei dem gemeinsam besprochen wird, wie notwendig therapeutische Massnahmen sind, welche Möglichkeiten es gibt, welcher Nutzen davon zu erwarten ist und wie diese optimal in den Alltag integriert werden können. Bei starker kognitiver Einschränkung im Rahmen der Zerebralparese kann sich die betroffene Person selbst meist nur bedingt dazu äussern. Hier bedarf es dann eines guten Fingerspitzengefühls und dem Austausch mit den betreuenden Personen, um den Bedürfnissen der betroffenen Person möglichst gut gerecht zu werden.

Die möglichen Behandlungskonzepte sind immer auf die individuelle Situation und die individuellen Untersuchungsbefunde abgestimmt. Das gesamte Behandlungsspektrum kann von «beobachtende Verlaufskontrolle aktuell ausreichend» bis zu operativen Interventionen reichen. Oft kann mit konservativen Therapien, z.B. Beckenbodenphysiotherapie, Blasen- bzw. Verhaltenstraining, medikamentöse Behandlung, neuromodulative Verfahren (= Beeinflussung der Nervenaktivität durch sanfte 

Stromimpulse), intermittierender oder permanenter Katheterismus oder einer Kombination davon, eine zufriedenstellende Verbesserung erreicht werden.

Zusammenfassend kann für Personen mit Zerebralparese und involvierte Betreuungspersonen festgehalten werden:

  • Neuro-urologische Abklärung einer Funktionsstörung so früh wie möglich, insbesondere wenn bereits Symptome bestehen oder es zu Komplikationen gekommen ist wie wiederkehrende Harnwegsinfektionen inkl. Nierenbeckenentzündung, Schmerzen bei Blasenentleerung und/oder Harnspeicherung, wiederkehrende Harnsteinbildung, Blut im Urin, Hautproblemen wegen häufiger Urininkontinenz in die Windelhose
  • Ziel der neuro-urologischen Abklärung ist die Feststellung des Schweregrads der Funktionsstörung des unteren Harntraktes und ob dadurch Folgekomplikationen insbesondere auch für die Nieren zu erwarten sind. Die Befunde der neuro-urologischen Diagnostik bilden die Grundlage zur Festlegung eines individuellen Behandlungskonzeptes in Absprache mit allen Beteiligten. Nicht immer muss daraus eine therapeutische Massnahme resultieren. Auch beobachtende Verlaufskontrollen sind eine Möglichkeit bei unkompliziertem Verlauf.
  • Therapiekonzepte müssen neben dem Erhalt der Nierenfunktion und des unteren Harntraktes als Speicherreservoir auch den Erhalt oder Steigerung der Lebensqualität berücksichtigen sowie alltagstauglich sein.

 

Referenzen im Text:

[1] Lower urinary tract symptoms and urodynamic findings in children and adults with cerebral palsy: A systematic review.

Samijn B, Van Laecke E, Renson C, Hoebeke P, Plasschaert F, Vande Walle J, Van den Broeck C.

Neurourol Urodyn. 2017 Mar;36(3):541-549. doi: 10.1002/nau.22982.

 

[2] Neurogenic Lower Urinary Tract Dysfunction in Adults with Cerebral Palsy: Outcomes following a Conservative Management Approach.

Goldfarb RA, Pisansky A, Fleck J, Hoversten P, Cotter KJ, Katorski J, Liberman D, Elliott SP.

J Urol. 2016 Apr;195(4 Pt 1):1009-13. doi: 10.1016/j.juro.2015.10.085.

 

Weitere Referenzen:

  • Risk Factors for Daytime or Combined Incontinence in Children with Cerebral Palsy.

Samijn B, Van den Broeck C, Deschepper E, Renson C, Hoebeke P, Plasschaert F, Vande Walle J, Van Laecke E.

J Urol. 2017 Oct;198(4):937-943. doi: 10.1016/j.juro.2017.05.067. Epub 2017 May 19.

 

  • Relationship of bladder dysfunction with upper urinary tract deterioration in cerebral palsy.

Gündoğdu G, Kömür M, Avlan D, Sarı FB, Delibaş A, Taşdelen B, Naycı A, Okuyaz C.J Pediatr Urol. 2013 Oct;9(5):659-64. doi: 10.1016/j.jpurol.2012.07.020.

 

  • Cerebral palsy, neurogenic bladder, and outcomes of lifetime care.

Murphy KP, Boutin SA, Ide KR.

Dev Med Child Neurol. 2012 Oct;54(10):945-50. doi: 10.1111/j.1469-8749.2012.04360.x.

 

  • Clinical and urodynamic spectrum of bladder function in cerebral palsy.

Richardson I, Palmer LS.

J Urol. 2009 Oct;182(4 Suppl):1945-8. doi: 10.1016/j.juro.2009.04.081. Epub 2009 Aug 20.

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