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Sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung – Mein Körper gehört mir!

Erfahrungsbericht von Charlotte Zach

[Triggerwarnung: Im folgenden Text werden körperliche Gewalterfahrungen von Menschen mit Behinderung thematisiert]

Viele Menschen mit Behinderung werden ständig angefasst. Gewollt. Ungewollt. Nötiger und unnötiger Weise. Viele von uns wachsen schon damit auf. Physiotherapie. Ergotherapie. Arztbesuche. Behandlungen. Operationen. Korrekturen. Schienen. Fixierungen. Gestresstes Pflegepersonal.

Häufig führt kein Weg daran vorbei. Das bedeutet aber nicht, dass solche Berührungen keinen Einfluss auf uns haben: dass es keine Spuren hinterlässt. Solche Situationen prägen unser Körpergefühl. Unser Autonomieverständnis. Unser Vertrauen in das Gespür für Grenzen. Für richtig und falsch. Für Konsens. Ein Beispiel:

Ich habe im Alter von 0 bis 6 Jahren eine Physiotherapierichtung bekommen, die sich Voyta nennt. Sie ist, wenn man so will, sehr passiv. Der/die Patient_in wird in bestimmte Positionen gelegt, dort über längere Zeit gehalten, es werden Punkte am Körper gedrückt, die bestimmte Muskeln anregen, sodass automatisierte Prozesse ausgelöst werden. Das Ganze ist enorm anstrengend, häufig unangenehm und entzieht sich vollständig der Kontrolle des zu Behandelnden. 

Nun versteht man als Kind leider nun mal nicht, was da mit einem gemacht wird und dass es einem eigentlich helfen soll. Aber genau da ist auch schon das Problem. Man versteht es nicht. Alles, was man versteht und mit der Zeit internalisiert ist, dass diese/r Therapeut_in scheinbar das Recht besitzt, sich gegen den eigenen Willen der Person und in dem Fall des Körpers zu bemächtigen und sich über die eigenen Bedürfnisse und Integrität hinweg zu setzen. Das passiert im Erziehungskontext in unterschiedlichem Ausmaß und verschiedenen Formen natürlich ständig. Grundsätzlich handelt es sich hier um einen Konflikt aus Autonomie und Sicherheit, der in der Pädagogik ständig auftaucht und der einen bei genauerer Betrachtung auf die Gefahr eines Machtmissbrauches hinweist. Aber das Problem besteht meiner Meinung nach nicht darin, dass man sich als erwachsene Person hin und wieder über den Willen der Schutzbefohlenen hinwegsetzt, sondern in der Kontinuität und Massivität, wie es eben beispielsweise in einer solchen Therapie der Fall ist. 

Denn in diesem Fall kommt es zu einem dauerhaften Lernprozess. Wenn man sich immer wieder über die Bedürfnisse eines Kindes hinwegsetzt, beginnt es infrage zu stellen, ob diese berechtigt sind. Je jünger das Kind ist und je weniger Erinnerung es an gegenteilige Erfahrungen hat, desto mehr manifestiert sich der Gedanke, dass es kein Recht auf seine Bedürfnisse hat. Kinder brauchen eine Rückmeldung, dass ihre Gefühle und instinktiven Reaktionen adäquat und berechtigt sind. Dieser Prozess wird im psychotherapeutischen Zusammenhang „Validierung“ genannt. Geschieht dies nicht, trainieren sich die Kinder falsche Verhaltensmuster an. Außerdem verlieren sie mitunter ihren Bezug zu bestimmten Gefühlen und Bedürfnissen, sodass sie ihnen nicht mehr als Informationsquelle zur Verfügung stehen. 

Hinzu kommt die Lernerfahrung, dass es nichts gebracht hat, seine Gefühle und Bedürfnisse zu artikulieren. Hat man diese Erfahrung oft genug gemacht, kommt es zur sogenannten erlernten Hilflosigkeit: Man verharrt in der unangenehmen Situation selbst dann, wenn man theoretisch die Möglichkeit hat, sich zu befreien. Somit braucht man nicht mal mehr die implizite Überzeugung zu haben, die Grenzüberschreitung sei berechtigt, um sie zu dulden. 

All das passiert natürlich nicht von einmal Krankengymnastik. Aber trotzdem besteht die Gefahr, dass in solchen Zusammenhängen falsche Überzeugungen gelernt werden, die auch dann noch wirken, wenn man rational längst verstanden hat, dass es sich um eine wichtige Therapie/Maßnahme/Untersuchung handelte, die einem hätte helfen sollen.

Ich sollte dazu sagen, dass ich die überwältigende Mehrheit meines Lebens von mir vertrauten Personen, meist Familienmitgliedern, gepflegt wurde. Bis zum Auszug eigentlich fast ausschließlich.  Außer in den paar Wochen Reha-Aufenthalten. Dass ich trotzdem eine solche Geschichte erzählen kann, lässt mich nichts Gutes erahnen. 

Wir müssen darüber reden. Wir müssen jungen Menschen mit Behinderung jeder Art das Selbstbewusstsein auf den Weg geben, auf ihre innere Stimme zu hören. Wir müssen über Körperbilder sprechen. Über Autonomie trotz Behinderung. Über Selbstbestimmung und Selbstwert. Über stete Tropfen, die einen aushöhlen können, ohne dass man es merkt. Über krasse Erfahrungen, die jahrelang dumpf in uns schlummern, bis sie ausbrechen. 

Meinen Körper als den Meinen zu verstehen und als wertvollen Teil von mir, ist Teil von Selbstbestimmung, sexuellem Selbstverständnis und eine wichtige Waffe gegen Ableismus.

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