Fachbericht von der Fachstelle Limita, Januar 2022
«Mein Körper gehört mir!»
Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und das Recht auf sexuelle Integrität sind Menschenrechte. Als grundlegende Werte sind sie Bestandteil unseres politischen Handelns und Gegenstand des menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns (pro familia, 2012). Heutzutage wird der selbstermächtigenden Auseinandersetzung mit sexueller Selbstbestimmung und sexueller Integrität viel Bedeutung beigemessen. Mit sexueller Bildung werden Menschen mit und ohne Beeinträchtigung dabei unterstützt, sich selbstbewusst für ihre Rechte einzusetzen.
Für eine umfassende und konsequente Umsetzung der genannten Rechte – insbesondere der konkretisierten Menschenrechte der UN-Behindertenrechtskonvention – reicht sexuelle Bildung aber nicht aus. Auch Fachpersonen, Institutionsleitungen und Angehörige von Menschen mit Unterstützungsbedarf müssen sich für vulnerable Personen in besonderen Abhängigkeitsverhältnissen stark machen.
Hochrisikobereich Institution
Bei der Prävention sexueller Ausbeutung verhält es sich ähnlich: Die Verantwortung für den Schutz von Menschen mit Beeinträchtigungen liegt in den Händen der Erwachsenen und damit bei Fachpersonen, Angehörigen und nicht zuletzt bei Institutionsleitungen. Denn Institutionen gelten als Hochrisikobereiche für sexualisierte Gewalt (Tschan, 2012). Eine aktuelle österreichische Studie zeigt auf, dass 44% der in Einrichtungen der Behindertenhilfe befragten Personen im Laufe ihrer bisherigen Lebenszeit sexualisierte Gewalt erfahren haben (Mayrhofer et al., 2019). Die Studie veranschaulicht, dass sich sexualisierte Gewalt häufig in Wohn- und Tagesstrukturangeboten für Menschen mit Beeinträchtigungen ereignet.
Die Gründe für ein erhöhtes Risiko von sexueller Ausbeutung in Institutionen sind vielfältig. Die asymmetrischen Machtverhältnisse, wie sie zwischen Klient*innen und Betreuenden zwangsläufig herrschen, sind nur einer von vielen Risikofaktoren. Oftmals fehlt es Klient*innen auch an sexueller Bildung und der nötigen Erfahrung, um eigene und fremde Bedürfnisse unterscheiden, Grenzen erkennen und setzen sowie allfällige Grenzüberschreitungen adäquat äussern zu können. Dazu kommt, dass Menschen mit Beeinträchtigungen, die in der Institution zumeist in ökonomische und persönliche Abhängigkeitsverhältnisse eingebunden sind, sich durch einen strukturierten Alltag an Anpassungen an Situationen und Kontaktpersonen gewöhnt sind. Weiter verfügen sie oft über wenige, von der Institution unabhängige soziale Kontakte und tendenziell über ein geringes Selbstwertgefühl. All diese Faktoren können sich negativ auf die Wahrnehmung von Grenzen sowie auf das Abwehren und Melden von Grenzverletzungen auswirken.
Hinzu kommt, dass auch der organisatorische Aufbau einer Institution das Risiko sexueller Ausbeutung entscheidend beeinflusst. Geschlossene Systeme mit autoritären Hierarchien gelten als besonders täterfreundlich – genauso wie offen organisierte Institutionen, welche von unterschiedlichen Personengruppen genutzt werden und in denen sich Freiwillige ohne grosse Hürden engagieren können.
Im Spannungsfeld zwischen Experiment und Schutz
Da in der Schweiz viele Menschen mit Beeinträchtigungen in Institutionen leben, lernen und arbeiten, gehört es zu den zentralen Aufgaben dieser Institutionen, sich der Prävention sexueller Ausbeutung anzunehmen. Dazu gehört, sich einerseits mit dem Recht auf selbstbestimmte Sexualität und andererseits mit dem Schutz vor sexualisierter Gewalt gezielt auseinanderzusetzen.
Um diesem herausfordernden Spannungsfeld gerecht zu werden, sollten Institutionen sowohl den Gedanken der direkten Prävention, als auch den Ansatz der indirekten Prävention verfolgen.
Im Rahmen der direkten Prävention ist ein möglichst umfassender, partizipativ gestalteter Ansatz zur Selbstbestimmung von Klientinnen und Klienten anzustreben. Da nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Jugendlichen und Erwachsenen Sexualaufklärung und sexuelle Bildung erhalten haben, muss diese proaktiv und regelmässig angeboten werden. Gefragt sind Angebote, die
Selbstkompetenzen in Bezug auf den Umgang mit Nähe, Distanz und Grenzsetzung aufbauen und stärken.
das Recht auf sexuelle Integrität thematisieren.
für Grenzüberschreitungen sensibilisieren, sodass sexualisierte Gewalt erkannt werden kann.
das Recht auf selbstbestimmte Sexualität thematisieren.
Sexuelle Ausbeutung ist eine leise und verborgene Gewaltform, für deren Erkennen es Wissen und Sensibilisierung braucht. Es liegt in der Verantwortung der Institutionen, ihren Klient*innen Raum für Experimente zu geben und gleichzeitig ihren Schutz zu gewährleisten. Bei dieser herausfordernden Aufgabe unterstützt die Fachstelle Limita. Mit ganzheitlichen Schutzkonzepten begleitet Limita Institutionen, Präventionsarbeit institutionell zu verankern. So können sich Institutionen auf allen Ebenen mit den Themenfeldern Nähe/Distanz, Grenzüberschreitungen, sexualisierter Gewalt, sexueller Ausbeutung und Prävention zielgerichtet auseinandersetzen.
Die Interaktive Präventionsausstellung INA
Ein aktuelles Projekt, das die Prävention sexueller Ausbeutung und die Auseinandersetzung mit sexueller Selbstbestimmung und sexueller Integrität als Bestandteil der institutionellen Prävention hervorhebt, ist die Interaktive Präventionsausstellung (INA) der Fachstelle. Die als Parcours aufgebaute Ausstellung richtet sich an Jugendliche (ab 13 Jahren) und Erwachsene mit kognitiven Beeinträchtigungen. INA unterstützt die Klientinnen und Klienten anhand von sechs quadratischen Stationen beim interaktiven Entwickeln von Selbstkompetenzen im Umgang mit Nähe, Distanz und Grenzsetzung. Indem sie lernen, Grenzüberschreitungen wahrzunehmen, können sich Klientinnen und Klienten beispielsweise Handlungskompetenzen im Erkennen von sexualisierter Gewalt aneignen. INA macht Präventionsarbeit in den Institutionen sichtbar, unterstützt Besucherinnen und Besucher, sich mit sexueller Selbstbestimmung auseinanderzusetzen und gibt den Institutionen den Impuls, ein ganzheitliches Schutzkonzept zu entwickeln oder weiterzuentwickeln.
Der Parcours orientiert sich an der «7-Punkte-Prävention» («Mein Körper gehört mir», «Ich kenne mein Gefühl und vertraue ihm», «Ich kenne gute und schlechte Berührungen», «Ich darf NEIN sagen», «Ich kenne gute und schlechte Geheimnisse» und «Hilfe holen ist wichtig»). Zu jedem Präventionsgrundsatz ist eine Station gestaltet. Bei «Ich kenne mein Gefühl und vertraue ihm» erfahren die Klient*innen z.B., wie zwischen guten, unguten und komischen Gefühlen unterschieden werden kann und bei «Ich darf NEIN sagen», können sie sich gegenseitig beim lauten «Nein!» rufen anfeuern.
Die Ausstellung steht für jeweils zwei Monate in einer Institution. Sie kann von Kleingruppen oder Einzelpersonen gemeinsam mit den Fachpersonen der jeweiligen Institution besucht werden. Zudem ist der Parcours mit vielfältigen Präventionsmaterialien angereichert, zu denen unter anderem der Comic «Alles Liebe?» (Limita, Elmer und Fries, 2020) das Präventionsbuch «Echt mein Recht!» (Petze, 2018) und Unterrichtsmaterialien «Mein Körper gehört mir!» (Stiftung Kinderschutz Schweiz, 2009) gehören.
An die Ausstellung geknüpft sind ausserdem eine Weiterbildung für das Fachpersonal, eine thematische Informationsveranstaltung für Angehörige und weitere Bezugspersonen, sowie zwei interne Reflexionsveranstaltungen. Durch die interne Weiterbildung und den Ausstellungsbesuch können Fachpersonen und Angehörige Grundlagenwissen, Handlungskompetenzen und Erfahrungen aufbauen. Sie werden angeregt, konkrete Präventionsarbeit – beispielsweise die Einbindung von Präventionsmethoden und -Materialien in den Institutionsalltag – anzugehen und diese innerhalb ihrer Institution zu verankern. Durch den institutionellen Organisationsentwicklungsprozess, welcher die Ausstellung umrahmt, kann auf Basis der Sensibilisierung zudem eine Präventions-Standortbestimmung für jede Institution vorgenommen werden. Anhand der Bausteine eines Schutzkonzepts werden im Anschluss an die Ausstellung der individuelle Handlungsbedarf und das Entwicklungspotential sichtbar gemacht sowie mögliche Entwicklungsziele und konkrete Massnahmen für eine wirkungsvolle Prävention skizziert. So kann sichergestellt werden, dass die interaktive Präventionsausstellung nicht nur als zeitlich begrenztes Angebot genutzt wird, sondern eine nachhaltige Wirkung auf Strukturen, interne Abläufe und Haltungen der Institution entfalten kann.
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Literatur
Limita. Fachstelle zur Prävention sexueller Ausbeutung (Hrsg.): Leitartikel 2014 – 2019.
Limita. Fachstelle zur Prävention sexueller Gewalt, Elmer, C., Fries, B. (2020): Alles Liebe? Eine Geschichte über Freundschaft, Achtsamkeit und Gewalt. Luzern: Interact Verlag.
Limita. Fachstelle zur Prävention sexueller Gewalt, Elmer, C., Gonser, P., (2020): Manual zum Comic „Alles Liebe?“. Luzern: Interact Verlag.
Mayrhofer, H. et al. (2019): Erfahrungen und Prävention von Gewalt an Menschen mit Behinderungen. Im Auftrag des Bundesministeriums Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz. Wien: Eigenverlag. (S. 22ff)
Petze – Institut für Gewaltprävention (Hrsg.) (2018): Echt mein Recht! Selbstbestimmung und Schutz vor sexualisierter Gewalt für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Kiel: Petze.
Pro familia. Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung (2012): Jetzt erst Recht. Eine Handreichung. Frankfurt a. M: pro familia.
Tschan, W. (2012). Sexualisierte Gewalt: Praxishandbuch zur Prävention von sexuellen Grenzverletzungen bei Menschen mit Behinderungen. Bern: Huber.