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Mein erster Besuch beim Frauenarzt - Sexuelle Gesundheit von Menschen mit Behinderung
Erfahrungsbericht von Charlotte Zach 

[Triggerwarnung: Im folgenden Text werden psychische Gewalterfahrungen von Menschen mit Behinderung thematisiert]

Ich bin erst mit 20 Jahren das erste Mal zu einer regulären Gynäkologie-Untersuchung gegangen. Und spätestens danach wusste ich auch ganz genau, warum ich diesen Termin so lange vor mir hergeschoben habe. Es war eine Erfahrung aus der Ableismus-Hölle. 

Bereits am Tresen während der Anmeldung sprach die Sprechstundenhilfe konsequent mit meiner Mutter (meine assistierende Begleitung), anstatt mit mir. Ich antwortete ihr konsequent und atmete innerlich tief durch; sagte mir, dies sei ja nur die Sprechstundenhilfe. Mit flauem Gefühl im Magen ging ich ins Wartezimmer und füllte die Anmeldebögen aus. Ich hatte mir einiges vorgenommen. Ich hatte Fragen. Sorgen. Gedanken. Heute wollte ich sie loswerden. Wo, wenn nicht hier?

Als ich in das Behandlungszimmer aufgerufen wurde, begann die Ärztin ohne zu warten oder die Tür zu schließen, mir persönlichste Fragen zu meinen sexuellen Erfahrungen zu stellen. Ich bat sie, die Tür zu schließen. Das flaue Gefühl im Magen wuchs. Die Stimmlage der Ärztin war hoch und klebrig-süß wie die von Umbridge von Harry Potter. Sie sprach mit mir, wie mit einem Kindergartenkind. Meine Fragen nach Vaginismus, nach Sexstellungen, nach Spastik beim Sex blieben mir im Halse stecken. Der von mir erhoffte Raum für all diese Fragen, für die Unsicherheit, die ich mit mir herumschleppte, wurde immer kleiner vor meinen Augen. 

Nach dem Gespräch folgte die Untersuchung. Ich bat meine Mutter herein, um mir zu helfen. Ich legte mich auf die Liege. Auch die Ärztin verwickelte meine Mutter sofort in ein Gespräch, interessanterweise 2 Oktaven tiefer, als das mit mir. Dann drehte sie den Kopf zu mir, lächelte mich zuckersüß an, hob die Hand, strich über meine Wange und sagte, an meine Mutter gewandt: „Sie haben eine ganz süße Tochter! So entzückend.“ Ich erstarrte unter ihrer Hand. Sie fuhr fort, den Ultraschall durchzuführen. Ich war perplex, schockiert. Meine Mutter schaute mich entsetzt an. In mir zerbrach der Gedanke, der Wunsch, ich könnte von irgendjemandem als junge Frau, als sexuelles Wesen wahrgenommen werden. Wenn dies nicht mal eine vermeintlich professionelle Person, wie eine Ärztin hinbekam, wie sollte ich es dann von einem Typen auf der nächsten Party erwarten?! In mir bebte es, ich versuchte, mit aller Kraft nicht zu weinen, um ein letztes bisschen Würde zu bewahren. Die Ärztin verließ kurz das Zimmer. Ich begann, still zu weinen. Jeglicher Raum für meine Fragen war verschwunden. 

Erfahrungen, wie diese, machen viele Menschen mit Behinderung. Ärzte sind nicht barrierefrei, weigern sich, Menschen mit Behinderung zu behandeln, fühlen sich außer Stande, sie im Bereich der sexuellen Gesundheit zu beraten, zu begleiten, zu unterstützen. Sie sprechen durch ihr zwischenmenschliches Verhalten und durch den Ausschluss von wichtigen präventiven und medizinischen Leistungen Menschen ihr Recht auf gelebte Sexualität ab. Es fehlt an gesundheitlicher Versorgung, Barrierefreiheit, Fortbildungen und Fachwissen, Forschung, Präventionsarbeit, spezifischer sexueller Aufklärung und an einem Raum für Austausch und Fragen. Also eigentlich an allem. Seit wenigen Jahren beschäftigen sich Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung mit der Frage, ob und wie Sexualität in ihren Räumen gelebt werden kann und darf. Darf. Das muss man sich mal vorstellen: Da wird darüber diskutiert, ob Du in Deinem Zuhause Sex haben darfst. Vielen Menschen (mit Uterus) mit Lernbehinderungen wird immer noch durch ihren gesetzlichen Betreuer vorgeschrieben, Verhütungsmittel, wie Hormonspritzen zu nehmen. Zwar gibt es bereits seit 1986 eine Passage im sogenannten Betreuungsgesetz, welche die Sterilisation von Menschen mit kognitiver Behinderung gegen deren Willen untersagt, jedoch gilt hierbei auch die Einwilligung durch den*die Betreuende. Auch, wenn diese hierbei den Willen des zu behandelnden Menschen miteinbeziehen sollen, zeigen Befragungen, dass vor allem Frauen von Betreuer_innen, Pfleger_innen und Jugendamtspersonal dazu gedrängt werden, eine Sterilisation oder Verhütung durchführen zu lassen (vgl. Zinsmeister 2012, S. 230 f.). Mit Menschenwürde oder Selbstbestimmung hat dies wenig zu tun, mag die Frage nach Familienplanung im Individualfall auch noch so schwierig und vielschichtig sein. Über Risiken, Neben- und Langzeitwirkungen von Eingriffen und hormonellen Behandlungen werden viele Betroffene kaum informiert. Behandlungen sind besonders perfide und unverhältnismäßig, wenn man sich die Zahlen der partnerschaftlichen, genital-sexuellen Aktivität dieser Personengruppe anschaut. Dass und wie fehlende Aufklärung und sexuelle Selbstbestimmung Missbrauch und Gewalt begünstigen, habe ich hier zu genüge erklärt. 

Die genannte „Dreimonatspritze“ gilt laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2003 aufgrund ihrer Nebenwirkungen als Verhütungsmittel letzter Wahl. Sie wird in Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung bei 43% der Bewohner*innen mit Uterus eingesetzt.

Sexuelle Gesundheit ist ein wichtiger Grundpfeiler von sexueller Selbstbestimmung. Liebe angehende Ärzt*innen und Ärzte, bitte nehmt uns Menschen mit Behinderung als erwachsene, sexuell aktive Menschen wahr. Öffnet uns den Raum für ein sachliches und professionelles Gespräch. Und warum finde ich, wenn bei Google Scholar oder auch normal bei Google Begriffe wie „Sex mit Tetraspastik“ oder „Vaginismus mit Tetraspastik“ eingebe, einfach nichts?! Das betrifft Millionen von Menschen! Wenn es keine Forschung gibt, gibt es auch keine Ärzt*innen oder Therapeut*innen, die junge Menschen mit Behinderung aufklären oder mit ihnen reden könnten. Dann gibt es weiter keinen Raum, das Thema bleibt ein Tabu und Menschen unter ihren Möglichkeiten und dadurch unsichtbar. Es ist ein Teufelskreis, der nur aufgebrochen werden kann, wenn alle Beteiligten einen Schritt machen. Also, liebe Menschen aus dem Gesundheitssystem: Educate yourself to educate others!

 

Quellen:

Onken, Ursula (2008): Sterilisation von Menschen mit geistiger Behinderung – Die Situation vor und nach Einführung des Betreuungsrechtes 1992 In: Pixa-Kettner, Ursula und Bargfrede, Stefanie (Hrsg.): Tabu Oder Normalität?: Eltern mit geistiger Behinderung und ihre Kinder, 2. Aufl. Heidelberg: Winter, S. 51-72.

Zinsmeister, Julia (2012): Zur Einflussnahme rechtlicher Betreuerinnen und Betreuer auf die Verhütung und Familienplanung der Betreuten. In: Betreuungsrechtliche Praxis, Jg. 21, 2012, Nr. 6, S. 227-232.

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