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Sounds like a melody - was harmlos beginnt…

Erfahrungsbericht geschrieben von Annika          

Diese Geschichte, meine Geschichte begann vor rund 2 Jahren und ist geprägt von extremer Wut, Unsicherheit, Selbstfindung, aber auch von Höhenflügen.

Gerne möchte ich dich an einen Moment mitnehmen, bei dem sich meine bisher gefestigte Welt aus den Angeln zu heben drohte. Eigentlich hat alles so harmlos angefangen. Ich war nämlich auf Besuch bei einer guten Freundin, wir schlürften Kaffee, als uns plötzlich eine Idee kam: Lass uns doch den Kinsey-Test machen. Zum damaligen Zeitpunkt, musst du wissen, war ich heterosexuell – so dachte ich zumindest. Ein paar Monate zuvor hatte ich mit meinem Freund Schluss gemacht.

Mit einer kindlichen Neugier und einer vermeintlichen Gewissheit über meine sexuelle Orientierung begann ich den Online-Test auszufüllen.

  1. Es handelt sich bei diesem Test lediglich um eine grobe Einschätzung. Was wirklich
    zählt, ist dein persönliches Empfinden, selbst dann, wenn du dich gar nicht labeln willst!
  2. Die Skala wurde im Jahr 1948 vom Forscher Alfred Kinsey entwickelt und ist demensprechend nicht mehr zeitgemäss. Du sollst wissen, dass sich die Sexualität jederzeit ändern kann bzw. fluid ist. Versuche deshalb auch die Zahlen auf der Skala nicht zu starr zu betrachten, sondern auch da, eher als fluid.

Hätte ich doch diese zwei Punkte vor dem Ausfüllen des Testes schon gewusst! Dann wäre mir bestimmt folgender Schock erspart geblieben. Denn als ich nach der letzten Frage die Auswertung sah, traf mich der Schlag: Ich erreichte auf der Skala eine 2 = überwiegend heterosexuell aber mehr als gelegentlich homosexuell. «Was steht da?! Nein das kann und darf nicht sein!! Und überhaupt, wieso nervt und verunsichert mich diese Aussage so?» Die Gedanken schienen sich zu überschlagen, ich hatte das Gefühl, etwas in mir sei dadurch zerbrochen oder sollte ich sagen ausgebrochen? Kann es wirklich sein, dass ich eventuell, vielleicht doch, bisexuell bin?!

Grundsätzlich bin ich nicht leichtgläubig oder gar manipulierbar. Ich selbst sehe mich als eine ziemlich gefestigte Person (auch was die Sexualität betrifft). Damit du dir ein genaueres Bild von mir machen kannst, beschreibe ich mich an dieser Stelle kurz: Ich, weiblich, mittlerweile über 30 Jahre alt, bin eine dynamische Rollstuhlfahrerin, die fest im Leben steht bzw. sitzt. Gerne lasse ich mich von aussen inspirieren, weiss jedoch relativ rasch, was zu mir passt und was nicht. Komisch, bei dieser Kinsey-Auswertung hatte ich diese gewohnte Klarheit plötzlich nicht mehr.  Kommt so ein Online-Test daher und will mir meinen sicheren Ort wegnehmen!? Pha, sicher nicht! Nicht mit mir! Die «Gewissheit» hetero zu sein, gab mir Halt. Doch diese Stabilität schien ernsthaft in Gefahr zu sein und dieses Konstrukt begann langsam zu bröckeln.  

Dieser Test brachte etwas ans Licht, was ich bis anhin nur in meinen Gedanken ausgelebt hatte, welche ich zeitweise vor mir selbst verneint hatte. Tja, da sass ich nun, völlig geschockt von dieser Erkenntnis. Als hätte mir jemand einen Spiegel vorgehalten mit den Worten: «Das bist du, schau genau hin…» Nein, nein und nochmal nein! Ich will das nicht! Meine sexuellen Fantasien mit Frauen sollen Fantasien bleiben und die gehen niemanden etwas an. «Solang ich niemandem (oder nur jemandem) davon erzählt habe, bleiben sie im geschützten Rahmen», so dachte ich. Bis dato hatte ich nämlich immer Beziehungen zu Männern gepflegt und habe dies auch nie in Frage gestellt.

Vielleicht wunderst du dich jetzt gerade, weshalb mich dieses Testergebnis so verwirrt hat. Zugegeben: Ich selbst wusste es auch nicht genau. Heute kann ich’s mir durchaus erklären: Es fühlt sich bedrohlich an, wenn intime Fantasien eine mögliche neue Realität formen – das geht tief und kann Angst machen…. Plötzlich schien es nicht mehr klar und eindeutig zu sein, dass ich ausschliesslich Männer sexuell begehrenswert finde.

Nach der ersten Schockstarre nahm ich einen grossen Schluck Kaffee, was es allerdings nicht besser machte - er war mittlerweile kalt geworden. Nicht dass du jetzt denkst, ich hätte etwas gegen Anders-Liebende oder sei gar homophob. Grundsätzlich bin ich äusserst tolerant gegenüber anderen Menschen und respektiere jegliche Lebensformen. Aber aus irgendeinem Grund gab ich mir selbst nicht die Erlaubnis so zu fühlen, geschweige denn, so zu leben. Während ich die Kaffeetasse nervös in den Händen hin und herschob, kamen die Fragen hoch: «Warum kann ich denn das nicht auch bei mir tolerieren? Wo ist da der Unterschied? Was macht mich so wütend auf mich selbst?

Als ich so in meiner Wut schmorte, meldete sich immer wieder eine leise Stimme: «Was ist, wenn es stimmt? Was ist, wenn ich mich dem stellen sollte? Vielleicht sollte ich mich auf diese (noch) unbekannte Reise begeben und Neues entdecken?» Wäre es nicht doch schön, wenn ich meine Fantasien mal ausleben könnte? Der Test konfrontierte mich mit diesem unausgesprochenen Wunsch. «Kann ich mir selbst eingestehen, dass ich so fühle und dass es okay ist?»

«Ich muss hier raus, ich halte es nicht mehr aus!» platzte es aus mir und sah dabei zu meiner Freundin. So machten wir uns auf den Weg in die Stadt, um für sie neue Klamotten zu kaufen. «Welch willkommene und nötige Ablenkung» dachte ich mir. Unterwegs holten mich die Gedanken und Gefühle zwar wieder ein, ich konnte mich jedoch erstaunlich gut dem Shopping widmen.

Als wir vom Shopping zurückkamen, hatte ich zum einen das Bedürfnis darüber zu reden, und zum anderen wollte ich nichts mehr davon wissen. Selbst meiner Freundin gegenüber war ich zwiegespalten. Einerseits war ich froh, sie als mentale Unterstützung zu wissen und andererseits war ich voller Neid. Lass mich Dir das erklären, liebe*r Leser*in: Meine Freundin hatte nämlich selbst vor ein paar Jahren ihr eigenes Coming Out als lesbische Frau. Somit wusste sie genau, in welcher Achterbahn der Gefühle ich mich zu diesem Zeitpunkt befand. Gleichzeitig war ich neidisch auf sie, weil sie in ihrer sexuellen Orientierung mittlerweile gefestigt und angekommen ist. Wir führten ein langes, sehr langes Gespräch, was mir unglaublich guttat.

Im Verlauf der Diskussion meldete sich die obengenannte leise Stimme in mir und wurde immer lauter – die Stimme der Neugier: «bin ich wirklich bisexuell? Falls ja, wie merke ich das? Wie fühlt es sich überhaupt an mit einer Frau zu schlafen? ...». Ich konfrontierte meine Freundin mit all diesen Fragen und wollte auch ihre Sicht der Dinge verstehen. Nach und nach konnte ich die Gefühle besser einordnen und wurde etwas entspannter. Die Zweifel, Ängste und auch die Wut waren immer noch da und trieben mich wie böse Geister hin und her. Trotz den negativen Emotionen wusste ich da schon, dass es sich richtig anfühlt.

Bereits einige Tage später outete ich mich erstmals bei einer anderen guten Freundin von mir. Wie du dir vielleicht vorstellen kannst, war ich unfassbar nervös. Obwohl wir uns jahrelang kennen, wusste ich nicht, wie sie dies aufnehmen würde. Nach einer gefühlten Ewigkeit sagte ich ihr, dass ich wohl bisexuell sei. Ihre Reaktion war grossartig – sie freute sich für mich. Sie zeigte mir, dass sie immer hinter mir stehen wird, ganz egal, wie und wen ich begehre.

Schon krass, dass sich all diese Ereignisse innerhalb einer Woche abspielten: so unfassbar aufwühlend, beängstigend und befreiend zugleich. Es folgten Tage, Wochen und Monate der Verarbeitung. Während dieser Zeit habe ich zahlreiche Erfahrungsberichte gelesen und mir fast alle verfügbaren YouTube-Videos zu diesem Thema angesehen. Ebenso halfen mir Songtexte, um dies alles einzuordnen. Mir wurde bewusst, dass es noch ganz vielen Menschen ähnlich ergeht wie mir und dass sich die sexuelle Orientierung im Verlaufe des Lebens ändern kann.

Nun, zwei Jahre später, kann ich mir selbst eingestehen, dass ich bisexuell bin. Bei meiner Familie habe ich es noch nicht geschafft, mich zu outen. Allerdings bin ich zuversichtlich, dass mir auch dies irgendwann gelingen wird. Spätestens dann, wenn ich ihnen meine erste Freundin präsentiere.

 

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