Vor einigen Monaten hat sich die Inklusionsaktivistin Wheelchair Rapunzel "öffentlichkeitswirksam" die Lippen aufspritzen lassen. Und ich habe mich sofort bei dem Gedanken erwischt: finde ich richtig geil von ihr. Direkt gefolgt von dem Gedanken: hä? Bei anderen Menschen fände ich sowas eher fragwürdig und würde mich fragen, welches Körperbild und welche Beziehung zum Körper durch diesen öffentlichen Akt bestärkt würden. Was ist der Unterschied?
Wheelchair Rapunzel ist eine junge Frau mit spinaler Muskelatrophie, die im Rollstuhl sitzt. Sie wird ständig damit konfrontiert, dass ihr Körper nicht normschön sei, dass er komisch, abnormal, abartig oder eklig sei und keine Chance hat, als ästhetisch, attraktiv oder sexy gesehen zu werden. Deshalb fand ich ihren öffentlichen Schritt zur Vergrößerung eines der Symbole der Sinnlichkeit, nämlich Lippen, einfach super.
Menschen mit Behinderung kämpfen ständig gegen diese Stigmata an und sind oft damit beschäftigt, sich und anderen Menschen zu beweisen, dass ihre Körper nicht dreckig, ungepflegt, ekelig und asexuell sind. Deshalb stehen wir auch, meiner Meinung nach, an einem völlig anderen Startpunkt in der Debatte darum, ob man den Körper in eine normschöne Richtung verändern sollte, sei es durch Schminken, Rasieren, oder größere Schritte, wie Lippen aufspritzen. Macht das alles wie ihr wollt! Macht es generell, wie ihr wollt- und wenn ihr eine sichtbare Behinderung habt, lasst euch nicht von schlanken cis- Mitmensch erklären, ihr müsstet ja mal lernen, euren Körper mehr zu akzeptieren. Wir Menschen mit Behinderung haben uns zu einem großen Teil schon auf einer Ebene mit dem eigenen Körperbild und der Akzeptanz des selbigen auseinandersetzt, wie viele der jungen, hippen Yoga-machenden Menschen, die mir erzählen, ich solle mich nicht rasieren, es nie werden tun müssen.
Ich habe mich geschminkt, gestylt, rasiert und es hat mir sehr geholfen, mich als sexuelle Person zu fühlen und darzustellen, mir ein Selbstbild zu erkämpfen, das mir wiederholt immer und immer wieder abgesprochen wurde.
Für viele junge Frauen mag das nicht rasieren eine Befreiung von den Zwängen der Gesellschaft sein. Für Menschen mit Behinderung mag es ein Akt der Befreiung und des Aufbegehrens sein, sich als normschön und im konventionellen Sinne attraktiv darzustellen. Die Mehrheitsgesellschaft der westlichen Welt hatte ihre Phase der sexuellen Befreiung in den 70er Jahren, in denen sie sich einen Raum erkämpft hat, in dem sie öffentlich Sexualität thematisieren und zur Lebensrealität erklären konnte. Genau diesen Raum müssen wir Menschen mit Behinderung uns nun auch erkämpfen und dabei ist das Lippen aufspritzen von Wheelchair Rapunzel ein digitaler Mittelfinger in das Gesicht einer Gesellschaft, die Behinderung Menschen infantilisiert und entsinnlicht!
Mach all die Dinge, die dir helfen, dich in deinem Körper wohl und sinnlich zu fühlen und lass dir von keiner Seite etwas anderes einreden, weder von ableistischen verstaubten Geistern, die in dir ein Kind sehen, noch von der Yoga machenden Progressiven, die nicht sehen wollen, was für eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konstrukten du schon durchlebt hast.