AA

Polyamorie und Behinderung

Erfahrungsbericht von Daniel Wernli

Oft habe ich mir gedacht, wer will denn mit einem Mann mit Behinderungen zusammen sein? Ich kann doch einer Frau nicht alles bieten, was sie braucht. Dass es eine Beziehungsform geben könnte, die das gar nicht erwartet, das kam mir damals noch nicht in den Sinn.

Gerne erzähle ich euch von meiner Beziehung zu meiner polyamoren Partnerin sowie welche Herausforderungen und Chancen eine solche Beziehung für einen Menschen mit Behinderungen birgt.

Polyamorie, definiert als Liebesbeziehung zu mehreren Menschen in Kenntnis und Einverständnis aller Beteiligten, ist natürlich ein gesellschaftlicher Rahmensprenger. Weg von der Monogamie, in welcher eine Person für immer und ewig die einzige Liebe sein soll. Das spannende an der Polyamorie ist ja, dass wenn man sich neu verliebt, dies nicht gleichbedeutend ist mit dem, dass man den alten Partner oder die Partnerin verlassen muss. Polyamore Menschen können mehrere Menschen gleichzeitig lieben, sie vergleichen es gerne mit dem Thema Kinder – wenn man ein zweites Kind bekommt, heisst das ja nicht, dass man das erste weniger liebt.

So kam es nun, dass ich eine Frau kennengelernt habe, die wahnsinnig sympathisch ist. Wie es so ist, flirtet man ein bisschen, tauscht Nummern aus, chattet, lernt sich kennen, und irgendeinmal kommt die alles entscheidende Frage: "Hast du einen Partner?" Natürlich stellte ich diese Frage in der Hoffnung, dass dem nicht so ist, denn ich war ja wirklich schon ein bisschen verliebt in diese Frau. Und so kam die enttäuschende Antwort, ja, sie habe einen Partner. Ich war so traurig und schrieb ihr natürlich, dass ich sie sehr mochte und wir hoffentlich eine schöne Freundschaft aufbauen können, denn ich werde ihren Partner ehren und meine Finger von ihr lassen. Da lacht sie und sagt: "Dass musst du doch gar nicht!" "Wie bitte?", ich war verwirrt… Da erklärte sie mir, dass sie polyamor sei und auch so leben will. Sie könne und möchte gerne mit mehreren Männern Liebesbeziehungen pflegen. Sie fragte, ob ich mir das denn vorstellen könnte. Nachdem ich eine kurze Google-Recherche zu Polyamorie hingelegt hatte, sagte ich schliesslich:" ja, warum denn nicht?" Ich konnte nichts verlieren.

Mir lag noch die Aussage eines Kollegen im Ohr: "geh ja keine Kompromisse ein in einer Beziehung, nur weil du Angst hast, sonst keine Frau zu finden". Naja, ich bin diesen Kompromiss eingegangen – das war doch ein Experiment, dass man ausprobieren musste? Und es kam, wie es kommen musste: ich habe das Herz dieser Herzdame erobert und wir sind ein Paar!

Wie ergeht es mir jetzt in dieser Beziehung?

Leistungsdruck mindern: Wie im einführenden Absatz erläutert, war es für mich eine wahnsinnige Erleichterung zu realisieren, dass ich nicht jedes Bedürfnis meiner Partnerin erfüllen muss, damit sie bei mir bleibt. Es gibt halt Sachen, die kann ich ihr als Mann ohne Behinderung tatsächlich nicht bieten. Das klingt zwar völlig logisch und einfach, das Ganze emotional zu verarbeiten war trotzdem wahnsinnig schwierig. Die Angst, dass ihr anderer Partner halt trotzdem besser ist, erfasst mich immer wieder, vor allem da er Fussgänger ist. Wie kann ich ihm denn die Stirn bieten? Sie wird mich sicher verlassen, wenn sie uns vergleicht. Dann beteuert sie mir, dass sie uns gar nicht vergleichen will und so glücklich ist, dass ich ihr etwas geben kann, was er nicht und umgekehrt. Aber ja, wenn ich den Kopf einschalte, erscheint es mir doch logisch, dass man einer Frau nicht alle Bedürfnisse befriedigen kann. Das kann übrigens kein Mann, egal ob er mit oder ohne Behinderung lebt. Meine Partnerin weiss halt, was sie braucht und holt es sich in ihren verschiedenen Partnerschaften.

Trigger-Warnung und Weiterentwicklung: Ja, ihr könnt es euch vorstellen. Wisst ihr wie oft ich im Roten drehe, wenn sie gerade ihre Zeit mit einem ihrer anderen Partner verbringt? Ja, die Eifersucht hält auch hier nicht zurück. Eifersucht, sagt sie, sei natürlich. Eifersucht will uns etwas aufzeigen und man soll darüber reden. Ja, das mache ich, und dann suchen wir Möglichkeiten, wie wir meine Verlustängste mindern können. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so bewusst Trigger erlebt, durchlebt, durchdiskutiert und daraus gelernt. Ich bin meiner Partnerin wahnsinnig dankbar für die stundenlangen Diskussionen und Lösungsfindungen. In dieser Beziehung habe ich ein riesiges Potential meine Persönlichkeit weiter zu entwickeln. Grundlage dafür ist Transparenz, Empathie sowie eine offene Kommunikation. Ich sage euch, das ist nicht immer so einfach wie es klingt.

Neue Freundschaften und familiärer Zusammenhalt: Nein, ich bin schon zu alt, um eine eigene Familie zu gründen. Also frage ich mich schon mit wem ich denn in Zukunft zusammenleben werde: Am liebsten in einer Gemeinschaft, die sich gegenseitig unterstützt und trägt. Die Polyamorie gibt mir hier völlig neue Perspektiven. Ich habe mich schon mehrmals beim Gedanken ertappt in einer Art Cluster-Wohnung zu wohnen mit eigenen Wohnungen und gemeinsamen Räumen, oder in einem grossen Haus mit Garten und mehreren Wohnungen. Der Gedanke, dass meine Partnerin in der Wohnung nebenan leben würde und ihr anderer Partner in einer weiteren Wohnung, hat manchmal einen beruhigenden Charakter. Unsere Stärken würden uns perfekt ergänzen. Ich mach die Elektronik, sie den Haushalt und er die anstehenden technischen Arbeiten im und ums Haus. Ein Gefüge aus geliebten Menschen zu haben, die da sind, wenn du mal krank bist oder Gesellschaft brauchst, zaubert mir ein Lächeln aufs Gesicht. Auch der Gedanke, dass der Partner meiner Partnerin mich genau wie sie so annimmt und akzeptiert wie ich bin tut mir gut. Eigentlich könnte er ein guter Freund werden, wenn ich endlich meine Trigger überwinden könnte und mich nicht immer mit ihm vergleichen würde.

Eigene sexuelle Freiheit: Oh ja, das ist natürlich für einen Mann wie mich ein wichtiger Punkt. Wenn sie darf, dann darf ich auch. Wir haben nämlich neben der polyamoren Beziehung auch noch eine offene Beziehung, das heisst ich lebe meine Sexualität weiterhin mit mehreren Frauen… naja, wer will schon jeden Tag nur Pizza essen? Auch die Vorstellung, dass ich mich vielleicht nochmals verliebe, dass ich eine zweite wunderbare Frau an meiner Seite haben dürfte, macht mich sehr glücklich.

Bin ich also ein zu schwieriger Kompromiss eingegangen, nur um mit dieser Frau zusammen zu sein? Nein, es ist kein Kompromiss mehr. Die Vorteile überwiegen, je länger, desto mehr und ich bin glücklich, durfte ich durch meine Partnerin die Polyamorie kennen und leben lernen.

Ich kann Polyamorie jedem Menschen empfehlen, der Freude an Kommunikation, Ehrlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung hat. Es ist nicht immer leicht, aber voller Liebe und Lebensfreude und es lohnt sich für mich definitiv. Albert Schweitzer sagte: "Glück ist das einzige, dass sich verdoppelt, wenn man es teilt. In dem Sinne bin ich der Meinung, dass Liebe das einzige ist, dass sich vermehrt, wenn man es teilt".

Hinweis zu Cookies

Unsere Webseite verwendet Cookies, um Ihr Online-Erlebnis zu verbessern. Mit der weiteren Nutzung der Seite erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden.