Erfahrungsbericht geschrieben von Charlotte Zach
„Kannst du eigentlich Sex haben?“ – Diese Frage wird mir regelmäßig gestellt, seit ich ca. 14 Jahre alt bin. Und mit 14 Jahren konnte ich sie noch nicht beantworten. Dafür hat sie mich sehr verunsichert. Wenn man etwas noch nie gemacht hat und wildfremde Erwachsene einen fragen, ob man es denn „noch könne“, fängt man schon an, daran zu zweifeln. Vielleicht können sie es besser beurteilen, als ich?
Jede*r Teenager fragt sich „Wie geht das eigentlich genau?“, „Worauf muss ich achten?“, „Wie muss ich mich bewegen? - hoffentlich mach ich nichts falsch!“ Aber ich habe mich über die Jahre zunehmend gefragt: „Geht das eigentlich mit mir?“, „Gibt es eine Position, die funktioniert?“, „Kann ich mich richtig bewegen? – Hoffentlich funktioniert es überhaupt!“
Die Filme, die ich damals kannte, sind voll mit Sexszenen in Missionarstellung oder im Stehen, - beides absolut suboptimale Positionen für mich als Spastikerin. Dazu kamen die zunehmende Unsicherheit mit dem eigenem Körper, seine Entsexualisierung und Verniedlichung durch die Gesellschaft und die gewaltsamen Erfahrungen des ungewollten vaginalen Einführens von Gegenständen durch Pflegepersonal gefolgt von Vaginismus (Kolumne zu dem Thema folgt!). – All diese Erfahrungen vermischten sich in mir zu einer zähen dunklen Masse des Zweifelns, die mich lähmte und zugleich auch verstummen liess. Ich schämte mich für meine Unsicherheit. Ich schämte mich für mein Unwissen. Ich schämte mich für die peinliche Berührung, die ich womöglich bei meinem Gegenüber auslösen würde, würde ich mich ihr*ihm öffnen. Mit zunehmendem Alter schämte ich mich dann auch noch für meine Unerfahrenheit. Obwohl ich in einem sehr progressiven Umfeld aufwuchs, sprach ich das Thema so gut wie nie an, nicht gegenüber meiner Familie und nur selten gegenüber meinen Freund*innen. Ich steckte in einer Sackgasse. Ich hatte Angst, ich könne keinen Sex haben und selbst wenn es physiologisch ginge, bezweifelte ich, dass jemand mit mir Sex haben wollte. Das machte mich unsicher und ich liess mich auf keine Situationen ein, die zu Sex führen könnten oder entzog mich ihr rechtzeitig. Zu gross die Angst vor dem Moment der Wahrheit und der Blamage, wenn es nicht klappen würde. Gleichzeitig waren diese wenigen Erfahrungen essentiell für mich und mein Selbstwertgefühl.
Dann zog ich von zuhause aus, mit Freund*Innen in eine WG. Und in diesem Jahr habe ich beschlossen, ich werde aktiv etwas tun. Bis dahin habe ich mich als Spielball des Zufalls empfunden. Ich dachte, ich müsse einfach warten, bis es passiert. Oder eben nicht. Doch in diesem Jahr habe ich beschlossen, dass ich die Gestalterin meines Lebens bin und wenn ich wollte, dass etwas passiert, musste ich dafür sorgen und mich vorbereiten. (Kolumne dazu folgt!) Ich war 22.
Als erstes habe ich mich meinen Mitbewohner*Innen geöffnet. Sie waren unglaublich verständnisvoll und unterstützend. Dann habe ich mich mit meinem Körper auseinandergesetzt. Ich habe ihn mir angeschaut. Die Teile, die ich schön fand und habe ausprobiert, wie ich sie noch besser betonen könnte. Und die Teile, die ich nicht schön fand und habe ich angefangen, sie nicht mehr auszublenden, aber sie auch nicht die schönen Teile überschatten zu lassen. Ich habe mich für ein Kunstprojekt von Studierenden über Sexualität fotografieren lassen. Ich habe Sexstellungen gegoogelt. Ich habe geschaut, welche Haltungen, Bewegungen und Positionen mein Körper kann. Dadurch habe ich mich auch insgesamt nochmal anders kennen gelernt und mich in meinem Körper wohler gefühlt. Ich habe mich mit meinem Vaginismus auseinandergesetzt und dann habe ich mich getraut. Es war wie eine 2. Pubertät.
Mit ihr bin ich aus der Sackgasse herausgekommen. Es wäre leichter gewesen, wären Sex und Behinderung kein Tabuthema. Hätte es Informationen über das „Wie“ gegeben, so wie für andere in der BRAVO. Hätte ich Vorbilder gehabt, die mir vorgelebt hätten, meinen Körper zu akzeptieren. Hätte ich keine Gewalterfahrung erleben müssen.
Ich bin auch heute absolut keine Sex-Expertin. Das Thema Sex verunsichert mich immer noch mit am meisten von allen Themen rund um das Leben mit Behinderung. Aber ich muss auch keine Sex-Expertin sein, um Kolumnen zum Thema Sex und Behinderung zu schreiben. – Im Gegenteil. Vielleicht kann ich mit meinen Erfahrungen anderen Mut machen und auch für das eine oder andere versteckte Thema sensibilisieren, das damit im Zusammenhang steht.
Gleichzeitig kann ich natürlich nur aus meiner Perspektive berichten und mit meiner Behinderung. Und auch, wenn viele Erfahrungen einander ähneln, wird nicht jeder meiner Vorschläge für jede*n funktionieren. Deshalb freue ich mich auch, wenn Ihr Eure Erfahrungen (gern auch anonym) teilt. Für mehr Empowerment!